Gauner-Humor

Ein Lebensbild von Paul Bliß
in: „Freie Presse für Texas” vom 05.08.1896


Es war eine schöne Sommernacht. Zwei Uhr mochte es wohl gewesen sein. Langsan ging ich durch den Thiergarten meiner Wohnung zu. Ich kam aus einer kleinen Gesellschaft. Ein Freund, ein bekannter Portraitmaler, feierte seinen Geburtstag und hatte sich einige Bekannte zur Bowle eingeladen. Wir waren alle Junggesellen, alle lustige und trinkfrohe Männer, und so wurde denn das kleine Fest auch ausgelassen heiter. Gegen zwei Uhr erst trennten wir uns.

Die schöne milde Nachtluft that mir außerordentlich wohl, und mit Behagen zog ich den frischen Duft des jungen Grüns ein. Meine Müdigkeit war vorbei, der kleine Rausch war auch verflogen, und jetzt fühlte ich mich köstlich wohl.

Als ich meine Straße betrat, graute schon der Morgen. Die Milchwagen kamen aus den Vororten in die Stadt gefahren, Bäckerjungen und Zeitungsfrauen begegneten mir bereits, so daß ich mich heimlich schämte, als Müßiggänger erst jetzt heimzukommen, da andere bereits ihr Tagwerk begannen.

Ich war froh, daheim und all den neugierigen Blicken entkommen zu sein.

An Schlafen war nicht mehr zu denken. Ich zog mich also um, legte mich auf die Chaiselongue, die unmittelbar unter dem Fenster stand, dessen beide Flügel ich vorher weit öffnete, und wollte so träumend den Tag erwarten.

Ungefähr eine halbe Stunde mochte so vergangen sein, als ich plötzlich leise Schritte vernehme im Kies meines Vorgartens, der mit zu meiner Parterrewohnung gehört. Zuerst glaubte ich, geträumt zu haben, als ich aber mit Aufbietung aller Kräfte hin horche, höre ich ganz deutlich die leisen, schleichenden Schritte.

Eben wollte ich auf, zu sehen, wer da sei, als die Schritte nicht mehr gehört wurden. Dafür hörte ich nun ebenso deutlich, wie Jemand das eiserne Gitter erklettert und zwischen den spitzen Stäben langsam weiter steigt.

Ich greife zu meinem Revolver, plötzlich aber sehe ich über mir zum Fenster herein ein paar Beine baumeln. Im Nu greife ich danach, halte fest mit der Kraft der Angst, und ziehe so den Kerl herunter, daß er auf die Chaiselongue purzelt. Jetzt werfe ich mich auf ihn und drücke ihm die Kehle zu. Alles das Werk eines Augenblicks.

Der Gauner aber, mit überlegenem Lächeln, flüstert „Guten Morgen!”

Das kam mir so überraschzend und dermaßen komisch vor, daß ich mitlächelte, ebenfalls „Guten Morgen!” sagte und ihn losließ.

Sofort erhob er sich und sagte lächelnd: „Na, Sie sind doch wenigstens 'mal ein vernünftiger Mensch, immer leben und leben lassen — ein anderer hätte mich vielleicht gewürgt!”

Sprachlos musterte ich ihn. Seine mehr als defekte Kleidung war wenig vertrauenerweckend, und unwillkürlich griff ich wieder zum Revolver.

Doch wieder lächelte er und sagte: „Meinethalben brauchen Sie sich keine Mühe zu geben, ich gehe jetzt wieder so, wie ich gekommen bin. Stecken Sie nur die Knallbüchse getrost ein.”

Noch immer weiß ich nicht, was ich von dem Kerl halten soll. Dann aber frage ich: „Was wollen Sie hier?”

„Was kann ich gewollt haben? Einbrechen wollte ich,” entgegnete er mit der größten Seelenruhe.

„Nun wird man Sie einstecken.”

„Meine Sorge!” sagte er ruhig, „wenigstens bekomme ich dann wieder etwas zu essen.”

„Und warum wollten Sie einbrechen?”

Finster sah er mich an. „Weil ich Hunger hatte,” sagte er schroff.

„Aber man hätte Sie doch leicht ertappen können; es ist ja bereits ganz hell draußen, und alle Augenblicke kommt Jemand hier vorbei; ja, es ist geradezu erstaunlich, daß man Ihr Einsteigen von draußen nicht bemerkt hat.”

„Das wäre mir ganz schnuppe gewesen. wenn man seit drei Tagen so gut wie nichts gegessen hat, ist man zu Allem fähig.”

Der arme Kerl dauerte mich jetzt wirklich. In seiner ganzen Haltung war so viel Ernst, so viel Verachtung aller Gefahren, daß er in meinen Augen einen Zug von Größe bekam.

„Wollen Sie was essen?” fragte ich.

Erstaunt, fast ungläubig, starrte er mich einen Augenblick an, dann antwortete er lächelnd: „Dann wäre wenigtens meine Mühe nicht ganz umsonst gewesen.”

Ich zwang mich, ernst zu bleiben, winkte ihm, mir in das Nebenzimmer zu folgen, und dort setzte ich ihm Brod, Butter und etwas kaltes Fleisch vor.

Mit einer wahren Gier aß er darauf los und kümmerte sich nicht im Geringsten um mich.

Erst jetzt bemerkte ich, daß er ein intelligentes Gesicht hatte. Ich beobachtete ihn nun genauer. Er war vielleicht vierundzwanzig Jahre, hatte schmale, fast weiblich zarte Hände, und seine Art zu essen zeigte deutlich, daß er ehemals wohl in besseren Verhältnissen gelebt hatte. Sein Anzug war zwar sehr defekt, aber trotzdem ließ er doch erkennen, daß er aus gutem Stoff und nach der vorletzten Mode war.

Dann goß ich ihm eine Flasche Bier ein.

Er trank und meinte lächelnd: „Man ißt ganz gut bei Ihnen, mein Herr.”

Auch ich mußte lächeln über seinen trockenen Witz. Aber gleich wieder war ich ernst und fragte: „Haben Sie denn keine Eltern oder Angehörige mehr?”

Er verneinte. „Meinen Vater habe ich nie gekannt, und meine Mutter ist vor fünf Jahren gestorben. Verwandte, die ich habe, wollen mit mir nichts zu tun haben.”

„Aber warum arbeiten Sie denn nicht? Sie sind doch gesund und kräftig. Haben Sie denn kein Handwerk erlernt?”

„Nein, ich wollte zur Bühne gehen. Aber ich habe kein Talent. Und seit meine Mutter todt ist, bin ich ganz verbummelt.”

„Aber, was soll denn aus Ihnen werden? Sie sind doch noch so jung. Schämen Sie sich denn gar nicht, so zu verlottern?”

Grinsend sah er mich an und sagte: „Sie gehören wohl zu dem Verein für Rettung Gefallener?”

Ich machte ein böses Gesicht und wollte ihm eben eine Zurechtweisung geben, als er sofort abbittend einlenkte.

„Entschuldigen Sie, daß ich Ihre Liebenswürdigkeit so schlecht lohne, aber ich kann mich nicht anders machen, wie ich bin. Sie brauchen ja nur Lärm zu schlagen, dann wäre ich eingesteckt worden. Sie haben es nicht gethan. Gut, so sind Sie eben anders, als die Anderen. Aber wenn sie nun Ihr Liebeswerk krönen wollen, dann geben Sie mir noch ein paar Groschen, und dann lassen Sie mich laufen.”

„Aber, was soll denn aus Ihnen werden, Mensch, so versinken Sie ja ganz,” sagte ich entsetzt.

„Ich gehe schon nicht unter, dafür brauchen Sie keine Sorge zu haben. Ich befinde mich jetzt nur vorübrgehend in so desolaten Verhältnissen. Ich habe Pech gehabt. Ich spiele famos Billiard. Und bei den Rennen wette ich auch. Wie gesagt: ich gehe schon nicht unter.”

Nun, ich gab ihm also ein paar Mark, schenkte ihm auch noch einen Rock, und dann ließ ich ihn durch den Eingang zum Hinterhaus fortgehen.

„Nochmals besten Dank,” rief er, „und lassen Sie sich's gut gehen. Vielleicht sehen wir uns 'mal bei einer besseren Gelegenheit wieder,” — dann ging er, stolz und aufrecht, als gehöre ihm halb Indien.

Als ich auf meiner Chaiselongue lag und das ganze doch gewiß höchst eigenartige Erlebniß durchdachte, kam mir immer wieder der Gedanke, daß es im Grunde schade sei um den Burschen, in dem doch gewiß irgend ein Talent steckte. Vielleicht fand ich ihn einmal wieder. Dann wollte ich ihn 'mal ernsthaft stellen, daß er wieder auf gute Wege käme.

Nun, ich traf ihn bald darauf schon wieder. Aber wie!

Er lag im Thiergarten, an einen Baum gelehnt, den rechten Fuß untergeschoben, so daß es aussah, als sei der Fuß invalid, denn eine Krücke lag auch dabei; über den Augen trug er eine große Brille mit dunkelblauen Gläsern, und neben ihm stand eine große Blechbüchse für die Almosen; fortwährend bat er kläglich: „Bitte, ein armer Mann.”

Da er noch meinen Rock trug, erkannte ich ihn sofort. Erstaunt trat ich heran und fragte, was ihm denn passirt sei.

Wieder verzog er grinsend den Mund, wie ehedem, dann sah er sich spähend um, ob auch Niemand ihn hören könne, und sagt halblaut zu mit: „Das ist ja alles nur Mumpitz, ich bin ja ganz gesund, aber es ist wirklich ein ganz einträgliches Geschäft, die Leute fallen alle d'rauf rein. Man muß eben sehen, wie man durch die Welt kommt.”

Ich schwieg und ging weiter.

Nun war ich curirt.

Dann, nach einem Jahre vielleicht, traf ich ihn wieder. Diesmal stand er vor dem Richter.

Aber wieder war es ein ganz eigenartiger, fast ein genialer Streich, den er vollführt hatte.

Er war in ein Colonialwarengeschäft gekommen, gerade um die Mittagszeit, als nur ein Verkäufer im Laden war, und hatte verlangt, daß man das Innere seines Hutes mit Syrup füllen solle. Es handele sich um eine Wette. Er hatte drei Mark dafür vorher bezahlt, und so füllte der Verkäufer den Hut mit Syrup. Als dies geschehen war, nahm der Gauner den Hut in Empfang und im Nu stülpte er ihn auf den Kopf des Verkäufers, so daß dessen Gesicht von dem dickflüssigen klebrigen Syrup über und über bedeckt war. Mit einem kühnen Griff nahm der Gauner dann die Geld-Cassette und entfloh. Aber er hatte wieder Pech. Im selben Augenblick war ein anderer Käufer gekommen, der sofort die Sachlage überschaute, und so war der kühne Räuber festgehalten, dann ganz jämmerlich durchgebläut und hierauf der Polizei übergeben worden.

So wurde er in's Gefängniß gesteckt, und seitdem habe ich seine Spur verloren.

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